Herzklopfen und Red Flags
Erste Liebe – das klingt nach Schmetterlingen im Bauch. Doch die Realität vieler Jugendlicher sieht anders aus: Laut einer Studie haben 75 Prozent der Mädchen und 50 Prozent der Jungen zwischen 14 und 18 Jahren bereits psychische Gewalt in ihren jungen Beziehungen erlebt. Körperliche und sexualisierte Übergriffe sind ebenfalls keine Seltenheit. Fachleute befürchten, dass die Zahlen heute sogar noch deutlich höher liegen.
Wenn so viele junge Menschen betroffen sind, sollte man darüber reden – dachten sich die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Kempten, Katharina Simon, und der „Runde Tisch gegen häusliche Gewalt“. Gemeinsam organisierten sie die Podiumsdiskussion „Heute weiß ich, es war keine Liebe“ – Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen“, die am 13. November im Rahmen des Bewegten Donnerstags im Kempten Museum im Zumsteinhaus stattfand.
Auf dem Podium saßen neben Katharina Simon zwei Gäste aus Tübingen, wo die Gewaltprävention für Jugendliche auf einem besonders ausgefeilten, langjährig erprobten Konzept beruht: Selma Frey arbeitet als Sozialpädagogin und ausgebildete Fachkraft für Prävention und Intervention bei sexuellem Missbrauch für die Tübinger Initiative für Mädchen*arbeit e. V., ihr Diskussions- und Kooperationspartner Tom Sattler, ebenfalls Sozialpädagoge, macht Jungenarbeit bei "Pfunzkerle", der Fachstelle für Jungen- und Männerarbeit Tübingen. Gemeinsam touren sie mit ihrem Workshop „Herzklopfen“ durch 9. Klassen und erarbeiten mit den Jugendlichen an zwei Vormittagen Herangehensweisen an Gewaltproblematiken und ein Verständnis für Grenzen und Respekt.
„Wir beobachten oft Rückzug, Scham und Schuldgefühle als Reaktion auf Gewalterfahrungen“, sagt Selma Frey, besonders bei weiblichen Jugendlichen. Wer betroffen ist, verliert oft soziale Kontakte und Vertrauen – nicht nur in andere, sondern auch in sich selbst. Manche männlichen Jugendlichen flüchten sich in überhöhte Männlichkeitsbilder: „Ich darf keine Gefühle mehr entwickeln, ich muss immer in Kontrolle bleiben“, beschreibt Tom Sattler die fatalen Folgen.
Prävention setzt früh an. Projekte wie „Herzklopfen“ gehen in Schulen und sprechen mit Jugendlichen über Respekt, Grenzen und Zivilcourage. Statt auf den erhobenen Zeigefinger oder intimes Ausfragen setzen die Trainer dabei auf Peer-Ansätze: „Wir fragen: Was würdest du einer guten Freundin raten? Das fällt leichter, als die eigene Betroffenheit zuzugeben“, erklärt Frey. Mit Methoden wie Beziehungsgeschichten und „gelben Karten“ lernen Jugendliche, Grauzonen zu erkennen – wann wird Fürsorge zur Kontrolle, wann kippt Nähe in Übergriff?
Doch die Arbeit ist unterfinanziert. „Wir wissen nicht, wie viele Workshops wir nächstes Jahr noch anbieten können“, klagt Sattler. Dabei ist der Bedarf riesig: Influencer wie Andrew Tate, erzkonservative Rollenbilder auf TikTok und die Romantisierung toxischer Beziehungen in Serien verstärken problematische Muster. Was hilft? Bezugspersonen, die hinschauen. „Traut euch, Dinge anzusprechen“, appelliert Selma Frey. Und sie gibt ein Bild mit: „Es braucht viele Landeplätze – Orte, an denen Jugendliche sicher landen können, wenn sie Hilfe suchen.“
INFORMATION:
In Kempten gibt es zwar keine expliziten Präventionsprogramme für Jugendliche, aber dennoch jede Menge Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Gewalterfahrungen: Der „Runde Tisch gegen Häusliche Gewalt Kempten" ist ein Zusammenschluss von Polizei, Justiz und Hilfebereich. Er wird organisiert von der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt und hat das Ziel, die 20 beteiligten Institutionen zur besseren Prävention und Intervention bei Partnerschaftsgewalt zu vernetzen. Die Mitarbeitenden der Fachberatungsstelle der AWO beraten, begleiten und unterstützen seit über 25 Jahren Betroffene sexueller Gewalt - kostenfrei und anonymisiert. Im Frauenhaus Kempten bekommen Frauen und Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, direkte Unterstützung. Auch ein anonymes Hilfetelefon steht zur Verfügung. Alle Angebote sind hier zu finden: www.kempten.de/gegen-gewalt
Foto: Anke Roser