„Wir brauchen echte Begegnungen“
Was tun, wenn das Leben aus dem Gleichgewicht gerät? Wenn Einsamkeit, Überforderung oder Verlust die Seele belasten? Gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit werden schwermütige Gedanken häufiger. Pfarrerin Jutta Schröppel engagiert sich seit mehr als zehn Jahren für die Suizidprävention in Kempten. Gemeinsam mit einem Fachbeirat setzt sie sich für mehr Offenheit, Begegnung und gesellschaftliche Verantwortung ein.
„Ich bin Seelsorgerin – das heißt, ich bin da, wenn Menschen in seelische Krisen geraten“, sagt Jutta Schröppel. Seit über einem Jahrzehnt arbeitet sie im Bezirkskrankenhaus (BKH) Kempten, wo es täglich mindestens eine Einweisung wegen Suizidalität gibt. Sie begleitet Patientinnen und Patienten, hört zu, stellt Fragen. Doch ihre Arbeit endet nicht an der Kliniktür, sondern sie ist auch außerhalb für Menschen in Krisensituationen da. Ihr Ziel: niedrigschwellige Hilfe, bevor es zu spät ist. „Manche brauchen einfach jemanden zum Reden – nicht gleich einen Therapeuten, sondern einen Menschen, der zuhört.“
Einsamkeit betrifft alle Altersgruppen
Als Koordinatorin für Suizidprävention im evangelischen Dekanat engagiert Schröppel sich mit einem kleinen, interdisziplinären Team für mehr Sichtbarkeit und Aufklärung. „Wir sind ein Fachbeirat mit Menschen aus Medizin, Kirche und Sozialarbeit. Jedes Jahr überlegen wir gemeinsam, welches Thema wir in die Öffentlichkeit tragen wollen“, erzählt sie. In den letzten Jahren ging es um den assistierten Suizid, um Angehörige nach einem Suizid, um Auswege aus der Krise. In diesem Jahr hat sich ein Thema fast von selbst aufgedrängt: Einsamkeit.
Einsamkeit betrifft viel mehr Menschen, als man denkt“, sagt Schröppel. „Aber viele schämen sich es zuzugeben.“ Die Ursachen für das Gefühl alleine dazustehen sind vielfältig. Beispielsweise führen Digitalisierung, Homeoffice, soziale Medien und veränderte Lebensmodelle wie der Anstieg von Einpersonenhaushalten dazu, dass echte Begegnungen seltener werden. Deshalb ist Einsamkeit auch nicht nur ein Problem unter älteren Menschen. Auch Jugendliche und junge Erwachsene fühlen sich zunehmend allein – trotz oder gerade wegen der sozialen Medien. „In der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter ist die Angst vor Ablehnung groß. Die sozialen Medien suggerieren Nähe, schaffen aber oft nur eine Scheinnähe ohne echtes Miteinander“, sagt die Pfarrerin. „Man schaut sich das Leben anderer an, aber niemand schaut zurück.“
Krisen und Krankheit als Ursachen
Der ärztliche Direktor des BKH, Professor Markus Jäger, der ebenfalls Teil des Fachbeirats Suizidität des evangelischen Dekanats ist, bestätigt: „Wir erleben täglich, wie sehr Menschen unter Einsamkeit leiden. Und wie oft sie der Auslöser für Krisen ist.“ Suizid sei längst nicht immer Folge einer psychischen Erkrankung. „Früher ging man davon aus, dass mehr als 90 Prozent der Suizide ihre Ursache in psychischen Erkrankungen hätten. Heute wissen wir: Es sind nur etwa 50 Prozent. Die andere Hälfte ist bedingt durch soziale Krisen – Trennung, Krankheit, Verlust oder Überforderung.“ Auch das gesellschaftliche Bild vom Alter sei ein Problem. „Wir haben den Menschen eingeredet, dass sie bis 80 fit und aktiv sein müssen. Aber was, wenn das nicht mehr geht? Dann kommt die Krise“, sagt Jäger. Besonders ältere Männer nach dem Tod der Partnerin oder bei schweren Erkrankungen seien gefährdet.
Was also tun? „Zuhören“, sagt Schröppel. „Und zwar ehrlich. Nicht nur fragen: ‚Wie geht’s?‘ und dann gar nicht auf die Antwort warten. Sondern wirklich da sein.“ Sie erzählt von Gesprächen, in denen es um Sinnkrisen, Partnerschaftsprobleme oder den Verlust eines geliebten Menschen geht. „Manchmal braucht es einfach jemanden, der das mit aushält.“ Auch Jäger betont: „Wir dürfen nicht alles an die Profis delegieren. Jeder kann etwas tun. Dabei müssen wir akzeptieren, dass Fehler dazugehören, denn wer entscheidet, macht Fehler. Aber wer nichts tut, bewegt auch nichts.“ Außerdem warnt er davor, Einsamkeit zu pathologisieren: „Nicht alles ist gleich eine Krankheit. Aber klar ist: Einsamkeit macht krank – seelisch und körperlich.“
Man braucht nur einen Menschen…
Ein zentrales Anliegen des Fachbeirats ist es, Suizid zu enttabuisieren. „Wir müssen lernen, offen über Suizidgedanken zu sprechen“, betont Schröppel. „Fragen wie: ‚Denkst du daran, dir das Leben zu nehmen?‘ dürfen kein Tabu sein. Nur so können wir helfen.“ Doch auch wer nicht so viel Mut hat, kann etwas tun gegen Einsamkeit und Suizidgefahr: Begegnungen schaffen. „Wir brauchen Räume, in denen Menschen sich treffen können – ohne Leistungsdruck, ohne Erwartungen“, sagt Schröppel. Ob durch ein Gespräch in der Bäckerei, ein Engagement im Verein oder einfach ein offenes Ohr für den Nachbarn – Suizidprävention beginnt im Alltag. „Man braucht nur einen Menschen, den aber braucht man sehr“, zitiert Schröppel zum Schluss Mascha Kalékos bekanntes Gedicht. Und genau darum geht es: Da sein, zuhören, Mitmensch sein.
Kontaktperson zum Reden
Pfarrerin Jutta Schröppel
Koordination Suizidprävention
und Seelsorge am BKH Kempten
Mobil: 0151 62769846
Email: jutta.schroeppel@elkb.de
https://www.allgaeu-evangelisch.de/Suizidpraevention
Fotos: Jutta Schröppel, pixabay